Am dritten Tag nach dem
Erdbeben saß ich abends ausgehungert im Benchen Monastry, einem
tibetanischen Kloster im Viertel Swayambu (Kathmandu) und hoffte auf
eine Portion Reis, den die Mönche in badewannengroßen Töpfen für
die Nachbarschaft bereit stellten. Zuvor wurde mir ein warmer „Milk
Tea“ angeboten – ein Luxusgut, in Zeiten ohne Wasser, Strom und
Gas. Einer der Mönche, in weinroter Robe und Sandalen, saß neben
mir und begann zu lachen, als ich mich über die kalten Reisklumpen
hermachte. „You know, we believe that everything is impermanent. So
please, don't worry. Today you eat only plain rice. But tomorrow
maybe Daal Bhat. Who knows.“ Ich lachte. Nach vier Monaten in Nepal
habe ich gelernt, loszulassen. Das habe ich mir von den Nepalis
abgeschaut. Diesem Völkchen, welches aufgrund der Reinheit seiner
Seele auch die widrigsten Umstände im Leben mit einem Lächeln
akzeptiert.
Der 25. April – so
fangen die meisten Artikel an, die ich in der „Kathmandu Post“
oder „Himalayan Times“ lesen konnte – war eigentlich ein ganz
normaler Tag. Auch für uns. Wir hatten in der „Fine Grains Bakery“
ein üppiges Frühstück genossen und uns dann zu Fuß in die Stadt
aufgemacht, um die „Tattoo Convention“ am Durbar Marg zu
besuchen. Es war Samstag, der freie Tag der Nepalis. Die meisten
Geschäfte waren geschlossen, viele Leute in den Straßen. Wir
telefonierten mit unserer Familie, 20 Minuten bevor die Katastrophe
über das Land hereinbrach. In einer der namenlosen Straßen Thamels,
in der Nähe vom „Buddha Tea Shop“ Richtung Kanti Path, liefen
wir verträumt nebeneinander her und wurden, wie alle anderen
Tagträumer, jäh aus unseren Gedanken gerissen.
Die Erde begann zu
beben. Wie ein riesiges Monstrum, welches plötzlich zum Leben
erwacht. Von einer Sekunde zur anderen schien die ganze Welt aus den
Fugen zu geraten und die Häuser begannen zu schwanken, als wären
sie auf hoher See gebaut. Gefühlte zwei Sekunden lang habe ich nicht
realisiert, was passierte. Ich fühlte zuerst nur, wie meine Knie
anfingen einzuknicken und fragte mich, warum ich so grundlos in
Ohnmacht fallen würde, bis ich verstand, dass es nicht mein Körper
war, der sich bewegte. Meinem Freund ging es ähnlich. Er wurde
plötzlich von einem Nepali brutal am Arm gepackt und erschrak, weil
er dachte, derjenige wollte ihn verletzen. Wenn die Erde unter den
Füßen Wellen schlägt, als würde man auf der Meeresoberfläche
stehen, stellt man als normaler Mensch zuallererst sich selbst in
Frage. Die Gravitation, der verlässliche Boden unter uns, hat mich
in den 25 Jahren meines Lebens bis zu diesem Tag nicht einmal
zweifeln lassen. Nun war es soweit. Und ich hoffe, dass ich mich nie
wieder in meinem Leben so überwältigend machtlos fühlen werde.
Mein Freund packte mich am Arm und rief: „Lauf! Lauf! Und schau
nach oben!“ Verzweifelt versuchten wir, gegen die Druckwellen
anzukämpfen und schafften nur 20 Meter weiter auf eine Kreuzung zu
laufen. Vor meinem inneren Auge sah ich schon die Gebäude über uns
einstürzen und versuchte gleichzeitig, irgendwie meinen Atem unter
Kontrolle zu kriegen. Ich musste meinen Verstand zu bewahren! Um uns
herum begannen die Leute zu schreien. Zu weinen. Ein Motorradfahrer
wurde von seinem Sitz geworfen und sein Helm flog in unsere Richtung.
Die Taxis hatten angehalten und die Insassen standen mit weit
aufgerissenen Augen und dem puren Entsetzen im Gesicht uns gegenüber
und schauten wie wir auf die schwankenden Gebäude über unseren
Köpfen. 54 endlose Sekunden, die ich nie wieder vergessen werde. Die
längste Minute meines Lebens. Ich habe nicht einmal gedacht, okay,
das ist es jetzt gewesen, du wirst jetzt sterben. Ich hatte das
Gefühl, als wäre ich ohne Umwege direkt in der Hölle gelandet und
als würde das alles hier nie wieder aufhören.
Dann war es vorbei. Ich
zitterte am ganzen Körper, als hätte ich soeben in die Steckdose
gefasst und war nicht einmal in der Lage zu weinen, wie die
amerikanische Familie neben mir. Raus hier! Weg von den Häusern auf
eine offene Straße oder in einen Park. Im eng bebauten, chaotischen
Thamel konnte uns jederzeit die Stadt über dem Kopf zusammenfallen.
Wir rannten Richtung
Kanti Path, der größten offenen Kreuzung in der Nähe. Backsteine
und Betonbrocken lagen auf den zerissenen Straßen. Bordsteine hatten
sich von den Häusern losgerissen, Strommasten lagen quer über den
Autos, Tische der Souvenirshops waren in der Mitte zerschlagen, ganze
Mauern eingestürzt und Häuseretagen eingefallen. Massen von
Schaulustigen schienen den Ernst der Lage nicht zu begreifen,
versperrten die Straßen, filmten und fotografierten. Ob die im
Geografieunterricht nicht gelernt haben, dass es Nachbeben geben
kann? Eine Touristin kam lachend auf uns zu und fragte: „What the
hell was that?“ Und ich schrie: „That was a fucking earthquake,
so you better move!“
Die Nachbeben
passierten wenige Minuten später. Tausende von schwarzen Raben
erhoben sich über unseren Köpfen und wollten sich nicht wieder in
die Bäume setzen. Mein Gleichgewichtssinn lief völlig aus dem Ruder
und ich fühlte mich wie betrunken, während die Strommasten wankten.
„Seid ihr Christen? Können wir beten?“, fragte eine Frau. Neben
uns eine französische Familie mit zwei Kindern. Der kleine Junge
hatte eine dicke blaue Beule auf der Stirn. Das Mädchen weinte.
Hätte ich auch gern gemacht. Aber wir mussten klar im Kopf bleiben.
Wir entschieden so
schnell wie möglich unsere Familien zu informieren, solange es noch
ein funktionierendes Telefonnetz gab.
Die Nacht schliefen wir
dann unter freiem Himmel auf der Wiese des „Military Camp“,
zusammen mit hunderten anderen Flüchtlingen, Soldaten und
Verletzten. Zuerst regnete es nur leicht, sodass wir Zuflucht unter
einem kleinen Baum finden konnten. In der zweiten Nacht war der Regen
so stark, dass wir erneut umziehen mussten. Da alle Zelte und
Baracken bis auf den letzten Platz besetzt waren, haben wir unseren
Schlafplatz kurzerhand in das Wachhäuschen am Helikopterlandeplatz
verlegt. Dort sollten wir dann, von Tag zu Tag von immer mehr
nepalesischen und israelischen Soldaten umringt, die nächsten fünf
Tage verbringen. Ohne Strom, Wasser, Toilette, Telefonnetz,
geschweige denn Internet. Weder unsere Mitmenschen, noch die Soldaten
oder Medien konnten uns irgendeine Auskunft über den Zustand des
Landes oder den Ernst der Lage geben. Wir wurden von mehreren kurzen
und längeren schweren Nachbeben heimgesucht, die den bereits
beschädigten Häusern den Todesstoß versetzen, was wir den
aufsteigenden Staubwolken über der Stadt entnahmen.
Und in all dem Chaos,
der Angst und der Ungewissheit, blieb Kathmandu sich trotz allem
seiner Seele treu. Adler badeten früh zum Sonnenaufgang in den
Regenpfützen. Die Affen von Swayambunath traten noch eifriger als
gewohnt ihre tägliche Suche nach Nahrung an. Mönche spielten
Fußball und Rugby mit den Kindern. Männer kauten Tabak und
diskutierten vor den Zelten. Frauen kochten Reis und Daal auf ihren
heimischen Gaskochern. Ein alter Mann sammelte Holz. Die Soldaten
weckten uns mit einem „Good Morning, Sir!“ und wünschten uns ein
„Enjoy yourself!“, wenn wir unsere Chips und Kekse zum Mittag
aßen. Frauenchöre sangen in die Nächte hinein, in denen der Mond
unsere Laterne war.
Erst am sechsten Tag
konnte ich mir nach der Zeitungslektüre der lokalen Nachrichten
einen Eindruck über den Ernst der Lage verschaffen: drohende
Epidemiegefahr, Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und das
Ausmaß der Zerstörung. Zu allem Überfluss mussten wir auch noch
unseren Schlafplatz auf dem Militärcamp verlassen. Ich war müde und
erschöpft und die Nachbeben ließen mir jedes Mal wieder das Blut in
den Adern gefrieren. Ich beschloss, die Deutsche Botschaft anzurufen
und wurde mit dem lapidaren Hinweis abgespeist, ich solle doch im
Internet ein Ticket bei Turkish Airlines buchen.
Mehr Glück hatten wir
bei der französischen Botschaft, die uns anbot, in den nächsten
vier Stunden evakuiert zu werden. So wurden wir von der höchst
organisierten französischen Armee mit einem Militärflugzeug am
30.April über New Delhi nach Paris, Charles-de-Gaulle, außer Landes
geflogen. Ohne uns von einem einzigen unserer Freunde verabschieden
zu können.
Nach all diesen
Strapazen und zwei schlaflosen Nächten hat mich das Aufgebot an
Fernsehteams, Journalisten, Politikern, Psychologen und Polizei bei
unserer Ankunft restlos überfordert.
Nun sitze ich auf einer
Dachterrasse in Paris, wundere mich, welche Themen für die Menschen
hier wichtig sind: Warum hier alle über Arbeit reden, die Leute
Angst voreinander haben, jeder zuerst an sich denkt und man bei der
großen Auswahl im Supermarkt gar nicht weiß, was man zuerst kaufen
soll, während ich mich über richtige Toiletten, warmes Wasser und
ein Dach über dem Kopf freue. In Nepal werden jetzt die toten Tauben
vom Durbar Square mitsamt dem Holz der Weltkulturerbe-Tempel
verbrannt. Die Regierung ist unfähig, das Überlebensminimum ihrer
Bevölkerung zu sichern. Die Verletzen und Toten übervölkern die
Krankenhäuser. Die Regenzeit steht vor der Tür. Unsere Freunde
können den Touristen jetzt keine Gebetsmühlen und Klangschalen mehr
verkaufen. Sie haben ihre Arbeit verloren und können nicht zurück
in ihr einsturzgefährdetes Haus. Es wird vermutlich Jahre dauern,
bis sich Nepal wieder aus der Asche erheben kann.
Die Bilder und Berichte
in den Medien versuche ich zu vermeiden, denn sie machen mich
traurig.
Ich möchte lieber an
die Worte des Mönchs denken und die Hoffnung nicht verlieren. Denn
„Everything is impermanent“.